Für einen Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit | FÄN 

Raus aus den Echokammern - Aufruf zur Kompliz:innenschaft!

Adrienne Goehler und Manuel Rivera
und 210 Stimmen aus Kunst, Wissenschaft und dem Dazwischen

Das Nachdenken über die Veränderung unserer Lebensgrundlagen durch die dramatische Erwärmung des Klimas kann nicht folgenlos bleiben – umso weniger, als sich die multiple Krisendynamik durch Corona gerade dramatisch zuspitzt. Wir haben keine Zeit mehr für ein bloßes Neben- statt Miteinander von Wissen und Handeln. Wir haben keine Zeit mehr, die Frage, ob die Kunst die ökologische Krise in ihre Realität mit aufnimmt, lediglich zu stellen. Es ist Zeit, dass wir sie beantworten – durch neue Formen des künstlerisch-wissenschaftlichen Eingreifens und Kooperierens.


Es ist hohe Zeit, die kulturellen Einrichtungen dazu zu befähigen, ihren Beitrag zur Bewältigung der Klimakrise dadurch zu leisten, dass sie mit Energie und Ressourcen angemessen umgehen. Das Konzept 'Green Culture' schlägt dafür vor, in der kommenden Legislaturperiode einen Service-Pool einzurichten und zu finanzieren. 
Zu einer ökologisch zukunftsfähigen Kulturproduktion, -präsentation und -distribution gehört indes auch, die heutige Projekt-Förderpraxis nachhaltig zu verändern. Denn deren herkömmliche Produkt- und Outputorientierung verursacht neben unökologischen Produktionsweisen auch die Verschleuderung künstlerischer Energien und finanzieller Mittel. Viele Fördereinrichtungen schließen explizit Wiederaufnahmen von künstlerischen Vorhaben aus; funktionieren nach dem "Recht auf die erste Nacht", also nach der Fiktion, mit jedem Antrag etwas ganz Neues, Zeitgenössisches, nie Dagewesenes präsentiert zu bekommen. Auf diese Weise bleibt von umfassenden, zeitaufwändigen künstlerischen Vorhaben nach kürzester Präsentationsdauer meist nur deren Dokumentation übrig. Danach muss für das finanzielle Überleben sofort ein neuer Antrag erfunden werden. Das heißt: auf Verschleiß fahren, die Kräfte in Selbstumkreisung gebunden. Dies kennt man aus der kapitalistischen Überproduktion mit ihrer Wegwerf- und Verschleißlogik. So können die jeweiligen künstlerischen Erprobungen nur sehr begrenzt gesellschaftliche Wirkkraft entfalten. Diese aber brauchen wir gerade dringend.

Wir brauchen eine Praxis der Wiederaufführungen, Rekontextualisierungen, langlebigeren Formate inklusive kommunikativer Einbettung. Diese würde indirekt auch dazu beitragen, dass 'freie' Künstler:innen nicht qua hochgezüchtetem Wettbewerbsklima am Existenzminimum leben müssen. Wir brauchen die Möglichkeit zu kontinuierlicherem, interdisziplinärem Forschen und Handeln, über die Grenzen unserer bisherigen künstlerischen Kontexte und Räume hinaus. Wir brauchen für die umfassende Transformation unserer nicht-nachhaltigen Lebensweise das Künstlerische, das wissenschaftliche und das soziale Bewegungswissen. Dafür müssen wir sowohl das Silo der Kunst | Kultur als auch das der Wissenschaft verlassen, die unverbunden neben den anderen Ressort-Silos stehen, und kulturpolitisch größer denken.
Das erfordert andere Fördergefäße und -Strukturen. Gegenwärtig erlauben weder die großen öffentlichen Stiftungen – wie Kulturstiftung des Bundes und Deutsche Bundesstiftung Umwelt, noch die meisten privaten Stiftungen eine systematisch interdisziplinäre, Denkformen übergreifende Ausrichtung. Nirgends werden die kreativen, Wege bahnenden und Räume öffnenden Impulse von Kunst und Wissenschaft in einem gleichberechtigten Forschen verknüpft. Nirgends stehen deren Fähigkeiten und besonderen Mittel, die existenzielle sozialökologische Transformationsnotwendigkeit unserer Gesellschaft mit voranzutreiben, in einem gemeinsamen Fokus.
Die Gesellschaft, die ihr Lebensgefühl artikulieren und verändern muss, um Nachhaltigkeit zu gestalten, kommt nicht ohne die Künste und Wissenschaften aus. Von ihnen ist das Denken in Übergängen, Provisorien, Modellen und Projekten zu lernen; beide Sphären teilen auch die Lust daran, sich mit Bekanntem nicht zu begnügen und den Widerspruch zu suchen. Eine Kultur, die beide integriert, kann sehr allgemein einen individuellen Veränderungswillen meinen, der sich mit anderen verbindet, um neue Fragen, Lösungen, Wege zu erproben, zu verknüpfen und zu verwerfen. Es geht um Bewahren, Vergegenwärtigen, um die bewusste Gestaltung des Lebens, um die aktive Beschäftigung des Menschen mit seiner eigenen und mit der ihn umgebenden Natur.

Ein Fonds Ästhetik und Nachhaltigkeit | FÄN 

Ästhetik meint, Wahrnehmung und Erkenntnis durch sinnlich-leibliche Erfahrung zu erweitern. Es geht um die Stärkung der Vorstellungskraft, um das Unterstützen des Spekulativen, um das Erzeugen von Analogien; um "unsystematische Offenheit" für ein "Geflecht von Ganzheitsvorstellungen", als die der erweiterte Kunstbegriff von Beuys lesbar ist, oder mit Alexander von Humboldt, "wer die Natur nicht liebt, kann sie nicht erforschen".

Ein FÄN soll einen weiteren Möglichkeitsraum eröffnen und den künstlerischen Aktionsradius weiter fassen. Entfaltung für diejenigen, die Freiheit nicht als Freiheit von jeder Art Nutzen, Nützlichkeit und gesellschaftlicher Resonanz verstehen, sondern die Freiheit suchen, sich in die riesige gesellschaftliche Aufgabe der Transformation einzumischen,  zu kooperieren und Zeit dafür zu haben.

Der FÄN muss andere Zeiträume als in ad-hoc-Projekten gewähren, um verschiedene Formen des Experimentierens so integrieren zu können, dass das, was herauskommt, nicht weniger, sondern mehr ist, als jede Disziplin für sich allein leisten kann. Wie können wir Kunst und Wissenschaft im Sinne künstlerischen Forschens so verknüpfen, dass sie ihre eigenen Maßstäbe nicht verlieren und stattdessen neue errichten und verstetigen? Wie kann die Bewegung des Zweifelns, Fragens, Experimentierens in öffentliche Räume so hineinwirken, dass sie sich mit dem, was Zivilgesellschaft an Veränderungen versucht und betreibt, zu neuen Modellen verbindet?

Ziel des FÄN ist
_ die bloße Segmentförderung und entsprechende Versäulung des Wissens zu überwinden;
_ einen Möglichkeitsraum herzustellen für das Zusammenwirken zwischen dem
   Bewegungswissen von Nachhaltigkeits-Initiativen und wissenschaftlichen wie
   künstlerischen  Ansätzen;
_ Zeit zu ermöglichen für ein gemeinsames projektbezogenes multidisziplinäres Forschen;

Projekte zu ermutigen

_ in denen sich unterschiedliche Formen des Wissens begegnen;

_ die überregional-nationale, bestenfalls sogar internationale Ausstrahlung haben;

_ die innerhalb der Kunst und/oder der Wissenschaft innovativ wirken;

_ die thematisch und strukturell auf Nachhaltigkeit angelegt sind, in dem sie modellhaft 
   über sich selbst hinausweisen;

_ die eine holistische Perspektive auf sozialökologische Problemlagen ermöglichen, indem sie den Kontext des jeweiligen 'Problems' erweitern und somit das Bestehende 'reframen'; 
_ die ko-kreativ angelegt sind mit dem Potenzial, Denk- und Handlungssilos zu sprengen 
_ die allgemeine Problembeschreibungen in existenzielle transformieren und umgekehrt

_ die die Beteiligten dazu anstiften, ihre künstlerische und wissenschaftliche Praxis zu 
   überdenken, auch die Art des jeweiligen Forschens. 


Schon seit der Jahrtausendwende ist das große Bedürfnis vieler Künstler:innen unübersehbar, sich inhaltlich mit den großen Fragen der Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen, mit Forschungszeit, in Kooperation mit den Nachhaltigkeitswissenschaften. Dieses Bedürfnis ist seither noch erkennbar gestiegen. Seit zehn Jahren thematisieren weltweit eine Vielzahl von Ausstellungen, Filmen, Biennalen, Theaterstücken explizit Aspekte des Öko-Desasters, und jede Weltklimakonferenz hat mittlerweile ein integriertes Kulturprogramm. Dem erhöhten Interesse entsprechen, von Einzelprojekten abgesehen, aber weiterhin kaum verlässliche Formate und überdauernde Gelegenheiten. Vielmehr verhindern die gegenwärtigen Förderkriterien politischer Programme und Stiftungen Deutschlands die ästhetische Dimension des nachhaltigen Denkens, Lebens und Wirtschaftens.

Wir brauchen daher andere, nachhaltigere, übergreifende Finanzierungsformen, um das Potential von Kunst und Kultur auszuschöpfen, das die Gesellschaft mit neuen Ideen voranbringt. Denn die jeweiligen Akteur:innen treffen sich wegen der vollkommen unterschiedlichen Zeithorizonte ihres jeweiligen Tuns praktisch nie als gleichberechtigt Forschende. "Die Wissenschaft im Zeitalter ihrer Refinanzierbarkeit" (Uta von Winterfeld) und die Universitäten mit ihren steigenden Drittmittelanteilen und beschleunigten Studiengängen geben dafür weder den Raum noch den Horizont. 

Forschungsstipendien in der Kunst sind immer noch äußerst rar, schlecht finanziert und meist limitiert auf drei Monate (Corona-Zeit: sechs Monate); in der Wissenschaft ist das die Mindestzeit, um gerade einmal die Fragestellung für ein dreijähriges Forschungsvorhaben zu formulieren. Kunst, Wissenschaft und Bewegungswissen treffen sich also wegen ihrer unterschiedlichen Zeithorizonte praktisch nie als gleichberechtigt Forschende. 


Genau diese empfindliche Lücke will der FÄN helfen zu schließen, mit dem Ziel, gemeinsam ins Handeln zu kommen. Denn in der Nachhaltigkeits- und Umweltpolitik stehen wir doch vor allem vor der Frage, warum so wenig individuelles und kollektives Handeln aus all den Erkenntnissen folgt?
Grundfinanzierte 'experimentelle' Einrichtungen transformativer Forschung, wie das 'Research Institute for Sustainability | RIFS', können hier bis zu einem gewissen Grad vorangehen, aber nicht in der notwendigen Breite, Zeit und Muße, die es für die herausfordernde und anspruchsvolle Kunst-Wissenschafts-Kooperationen braucht.

Von sozialwissenschaftlicher Seite her lässt sich die Annahme treffen, dass beim Einbeziehen der Künste in das Forschen, die leiblich-existenzielle Dimension der jeweiligen Forschungsfrage eine größere Rolle spielen wird. Handlung(-salternativen) und Handelnde in der untersuchten sozialen Welt würden darstellbarer, fasslicher, Handeln an sich damit wahrscheinlicher. Daher sollte der FÄN an ein transformativ, gesellschaftsberatend ausgerichtetes Institut mit Problemstellungen an Schnittstellen von Wissenschaft und Politik angebunden und rückgekoppelt werden. 

Die Mittel für den FÄN kämen deshalb idealerweise auch nicht allein aus dem Kulturressort, 
sondern anteilig aus den Ressorts Umwelt, Kultur und Wissenschaft und Forschung. Das 
Desiderat des stärkeren Zusammengehens von Kunst und Wissenschaft bei der Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen folgt nicht nur aus den Herausforderungen selbst – Stichwort Umwelt – und aus den Interessen und Bestrebungen der Künstler:innen. Sie folgt 
ebenso aus der Notwendigkeit, Perspektiven, die bislang in Wissenschaft und Forschung unterrepräsentiert sind, gezielt einzubinden und zu fördern.


Künstlerische Praxis nach Corona

Die Corona-Krise verändert bereits jetzt künstlerische Praktiken und Formate, genauso wie Finanzierungsnotwendigkeiten und Existenzen. Dies wird sich fortsetzen. Künstler:innen und die Künste werden dabei aller gesellschaftlichen Legitimität und Sichtbarkeit bedürfen. Dazu kann der FÄN beitragen, indem er die Erfahrungen von Wissenschaften, Künsten und gesellschaftspolitischen Bewegungen zusammenbringt, damit sie sich gegenseitig verstärken und in die Breite der Gesellschaft hineinwirken. 

Wir brauchen ein Mit-, nicht Nebeneinander der unterschiedlichen Wissensformen. Und eine
offene Debatte darüber, ob sich ein Hochpreisland wie das unsere, das bekanntlich arm an Bodenschätzen und reich nur an der Ressource Kreativität ist, es sich leisten kann, bei der Jahrhundertaufgabe der Nachhaltigkeit auf das Können und Vermögen der Künstler:innen zu verzichten, bzw. sie überwiegend am oder unter dem Existenzminimum zu halten.